Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2022
Die Jury traf ihre Entscheidung.
„Zeit jetzt, dass wir die Erde tragen“ war Leitgedanke der
Ausschreibung »Fessel und Flügel«.
Dieser Schreibwettbewerb inspirierte in aller Breite und stellt
unter Beweis, dass Lyrik sichtbar und wirkungsvoll ist.
An der Ausschreibung beteiligten sich 221 Autorinnen und Autoren
mit 442 Textbeiträgen.
Die sechsköpfige Jury traf am 03.07.2022 in einem anonymen
Verfahren ihre Entscheidung.
Ihr gehörten an: York Freitag (Vorsitz), Leonie Köhler, Bianca
Körner, Katharina Körting, Michael Manzek und Dr. Martin A.
Völker.
Nominiert für den Preis wurden
Frank Maria Fischer (Hannover)
Barbara Peveling (La Varenne)
Anke Glasmacher (Köln)
Nicola Quaß (Düsseldorf)
Carmen Jaud (Augsburg)
Clemens Schittko (Berlin)
Hans-Joachim Kuhn (Braunsbedra)
Ursula Maria Wartmann (Dortmund)
Bastian Kienitz (Mainz)
Werner Weimar-Mazur (Waldkirch)
Philipp Létranger (München)
Gabriel Wolkenfeld (Berlin)
Undine Materni (Dresden)
Gewinner
des Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis 2022
•
Carmen Jaud (Erster Preis) aus Augsburg
•
Gabriel Wolkenfeld (Zweiter Preis) aus Berlin.
Preisgedichte
Carmen Jaud
herbst als wäre ich kulisse und meine haut von nebeln
beschlagen. finsterungen die mich auf flügeln trugen
abgelegte wiesen triefend von mond. er war von rohbauten
umstellt. man schaffte auch nachts bei elektrischem licht
ich hatte den mund voll staub. fenster dem kostbarsten
vorgemauert: gegenwart. was uns von ihr blieb. novembertage
verlassene badeanstalten. übergänge. ich glaubte mich
genau zu erinnern. dieses zwangsläufige in den spiegel blicken:
verabredung mit einem ornament aus sollbruchstellen und
kindheit. es sollten jahre vergehen bis es mir wieder einfiel:
das gesicht geborgen in den mantelfalten war nass. ich weinte
die welt zu ende. wollte ich jemals weiter gehen? alles lag tiefer
Gabriel Wolkenfeld
Aus dieser Landschaft alles Schöne herausgefiltert,
Sonnenblumen, Zwiebeltürme.
Aus dem Gesicht meiner kuhsanften Schwester: Unbekannt
verzogen sind Lächeln und Lust.
Die Hunde stehen Spalier, Kollaborateure
der Angst, Hasenfüße mit Weltmachtfantasien,
vom Unheil berauscht.
Sie nehmen von beiden Seiten.
Lautlos, als hätte der Schreck kein Gewicht mehr, fällt
die Brotfabrik in sich zusammen. Eines
von hundert Zitaten aus einem Film, der in eine andere Zeit gehört.
Der Wind malt ein streitendes Rabenpaar ins Geäst. Es
trägt Krach in den Schnäbeln, Panzerglasaugen, aus Schieferstein
Hauben.
In Konotop brennt das Gymnasium. Die Träume
der Schüler gehen in Flammen auf.
In Sumy trifft es ein Krankenhaus.
Ich habe nur einen Wunsch, sagt Kataryna. Ich möchte
einen Tod, der mein eigener ist. Keinen von der Stange. Schuss,
Bombenhagel, die eigenen vier Wände, die über
dem Kopf einstürzen.
Olena deckt den Tisch: Wenn die Kinder im Keller
schlafen, lädt sie die Ahnen zur Unterredung. Sie serviert
Bucheckern und Eibe.
Sie bittet um Rat: Was ist zu tun, dass wenigstens
in den Träumen nicht geschossen wird?
Preisverleihung:
Der Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis wird in diesem Jahr
zum 6. Mal vergeben.
Feierliche Preisverleihung und öffentliche Lesung waren
am 16. September 2022 im Rathaus Johannisthal,
Sterndamm 102, 12487 Berlin.
Carmen Jaud
Ulrich Grasnick.
Fotos: A.Armélin.
Gabriel Wolkenfeld